Der sogenannte Stresstest der Stromnetzbetreiber soll als Begründung für „Einsatzreserve“ und Weiterbetrieb der AKW herhalten. Tatsächlich zeigt er: Die Stromversorgung in Deutschland ist sicher, auch ohne jedes AKW. Gegen unwahrscheinliche, kurzzeitige Engpässe könnten viele Maßnahmen besser helfen. Und für mehr Stromexport braucht es mehr Leitungen, nicht mehr Kraftwerke.

1. Stresstest

Die Betreiber der Hochspannungsnetze in Deutschland haben mit Simulationen des Strommarkts und des Stromnetzes untersucht, ob im kommenden Winter auch unter Extrembedingungen a) der angenommene Strombedarf in Nord- und Süddeutschland zu jeder Stunde gedeckt werden könnte und b) in welchem Umfang Eingriffe ins Stromnetz nötig und möglich wären, um den gesamten am Strommarkt verkauften Strom auch liefern zu können. Den Simulationen zugrunde liegt das Wetterjahr 2012. Der Februar 2012 war der kälteste Monat der letzten zehn Jahre, zugleich wehte über einen längeren Zeitraum kaum Wind und es schien kaum Sonne („Dunkelflaute“).
 

2. Kraftwerksausfälle

In drei sich steigernden Extremszenarien (+), (++) und (+++) unterstellt der Stresstest von September 2022 außerdem 1. den Ausfall von Kohlekraftwerken in Deutschland (z.B. Niedrigwasser), 2. den Ausfall jeglicher Stromexporte aus Polen, 3. den Ausfall von Reservekraftwerken (z.B. technische Probleme), 4. den Ausfall von Gaskraftwerken in Süddeutschland und Österreich (Gasmangel), 5. einen zusätzlichen Strombedarf durch elektrische Heizlüfter sowie 6. massive Ausfälle von französischen AKW und entsprechend erhöhte Stromnachfrage aus dem Ausland. Alle drei Szenarien gehen zudem davon aus, dass die drei noch laufenden AKW in Deutschland zum gesetzlichen Abschaltdatum am 31.12.2022 vom Netz gehen.
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3. Keine Blackout-Gefahr

Selbst unter realistischen Extrembedingungen – Extremszenario (+) – ist die Stromversorgung in Deutschland dem Stresstest zufolge jederzeit gesichert. Deutschland hat selbst in der kalten Dunkelflaute genügend Strom und ausreichend Stromleitungen. Dies gilt selbst dann, wenn ungeachtet der immensen Betriebskosten eine Million elektrische Heizlüfter monatelang nonstop laufen würden. Auch in den noch extremeren Szenarien (++) und (+++) würde es nicht zu einem Blackout kommen.
 

4. Übersehene Leitung und ignorierte Kraftwerke

Die insbesondere für Bayern wichtige Stromleitung Redwitz–Mechlenreuth, die aktuell ausgebaut wird, ist im Stromnetzmodell des Stresstests nicht enthalten. Tennet hat .ausgestrahlt gegenüber aber schriftlich bestätigt, dass sie noch diesen Herbst in Betrieb geht. Die Leitung wird die Versorgungssicherheit in Bayern deutlich verbessern und auch den Bedarf an Redispatch-Kraftwerken im Süden Deutschlands reduzieren. Der Stresstest berücksichtigt beides nicht.

Darüber hinaus ignoriert der Stresstest mehr als 17 GW vorhandene regelbare Kraftwerkskapazitäten – ein Vielfaches dessen, was die AKW 2023 noch bereitstellen könnten. Die dem Stresstest zugrundeliegende Kraftwerksliste der Bundesnetzagentur von August 2021 weicht erheblich vom aktuellen Marktstammdatenregister derselben Behörde ab, das jedes Kraftwerk verzeichnet.

 

5. Dunkelflaute

Nur im Falle von noch umfangreicheren Kraftwerksausfällen im Inland und im Ausland, wie sie die Extremszenarien (++) und (+++) unterstellen, prognostizieren die Simulationen im Verlauf der angenommenen mehrwöchigen „Dunkelflaute“ kurzzeitige Lastunterdeckungen, also kurze Momente, in denen die laut Modell zu erwartende Lastspitze (üblicherweise gegen 18 Uhr oder gegen 8 Uhr) größer ist als die laut Modell in diesem Moment zur Verfügung stehende Kraftwerksleistung. Im Extremszenario (++) ist dies in Deutschland in insgesamt 1–2 Stunden der Fall, im Modell fehlen kurzzeitig maximal 700 MW und insgesamt 1 GWh Strom. Im Extremszenario (+++) geht es um insgesamt 3–12 Stunden im Verlauf des fiktiven Februars, eine kurzzeitig fehlende Leistung von maximal 7.000-8.000 MW und insgesamt 17–53 GWh Strom. Nicht berücksichtigt hat die Simulation allerdings, dass der Stromverbrauch in solchen Situationen preisbedingt sinkt: Großverbraucher reduzieren dann temporär ihren Verbrauch und entschärfen damit die Situation, wie die Netzbetreiber selbst anmerken. Solche kritischen Stunden, so sie denn überhaupt eintreten sollten, wären zudem gut vorhersehbar. Waschmaschinen und Trockner könnten also einfach ein paar Stunden später laufen, Wärmepumpen ihren Betrieb für kurze Zeit unterbrechen. Der französische Netzbetreiber RTE informiert seine Kunden über die App Ecowatt, dass sie in diesen Stunden sparsam sein sollen. All dies würde ebenfalls die Lastspitze kappen und somit eine Lastunterdeckung vermeiden. Selbst wenn alle diese Maßnahmen nicht funktionieren sollten, käme es im schlimmsten Fall zu kurzzeitigen, angekündigten und kontrollierten Abschaltungen einzelner Großverbraucher oder Quartiere – ähnlich wie bei Arbeiten am Stromnetz. Eine Blackout-Gefahr besteht nicht.

Dasselbe gilt auch in europäischer Perspektive. So sagt das Modell etwa für die Extremszenarien (++) und (+++) bei extremen Wetterbedingungen wie im Februar 2012 wegen der in den Szenarien unterstellten umfangreichen Kraftwerksausfälle kurzzeitige regionale Lastunterdeckungen irgendwo in Europa von in Summe 18 bzw. 91 Stunden voraus, mit einer maximal fehlenden Kapazität von 6.000–7.000 bzw. 18.400 Megawatt. Ein Großteil davon dürfte jeweils auf Frankreich entfallen, das bereits in den vergangenen Wintern mit regionalen Stromengpässen zu kämpfen hatte. Der französische Netzbetreiber RTE geht damit offensiv um und hat eine eigene App entwickelt, welche die Verbraucher*innen in betroffenen Regionen bei Bedarf auffordert, ihren Verbrauch kurzzeitig zu drosseln, also etwa die Stromheizung herunterzudrehen – um die Lastspitze zu kappen.

 

6. Markt versus Physik

In Situationen mit besonders hohem Windstrom-angebot (starker Wind im Norden Deutschlands) decken sich wegen der dann fallenden Börsenstrompreise auch viele Stromkunden aus dem Ausland mit günstigem Strom aus Deutschland ein. Das aktuelle Strommarktdesign erlaubt dies, auch wenn die vorhandenen Stromleitungen nicht ausreichen, um diese große Menge Strom quer durch die Republik und bis in die Nachbarländer zu transportieren. Nach gängiger Praxis wird dieser zwar verkaufte, aber nicht transportierbare Strom dann im Norden abgeregelt. Zugleich werden in Süddeutschland oder im benachbarten Ausland Kraftwerke hochgefahren, die den Strom dann ersatzweise dort erzeugen, wo er verbraucht werden soll oder von wo aus er weitertransportiert werden kann. Dieses symmetrische Ab- und Hochfahren von Kraftwerken heißt „Redispatch“.

In den Extremszenarien (+), (++), und (+++) des Stresstests reicht der Simulation zufolge die im Süden in solchen Situationen zur Verfügung stehende Kraftwerkskapazität – einschließlich der eigens dafür unter Vertrag genommenen Reservekraftwerke – nicht aus, um den gesamten nicht-transportierbaren und deshalb im Norden abgeregelten Strom ersatzweise im Süden zu erzeugen. Die Netzbetreiber warnen, dass für diesen Stromhandel die Leitungen oder ersatzweise Kraftwerkskapazitäten im Süden in Höhe von mehreren Gigawatt fehlen. Tatsächlich aber kann in solchen Situationen lediglich nicht so viel Strom exportiert werden, wie das Marktmodell der Netzbetreiber es vorsieht. Die Versorgungssicherheit in Deutschland ist selbst in den extremsten Szenarien nicht gefährdet, denn die vorhandenen Leitungen und Reservekraftwerke reichen völlig aus, um Süddeutschland auch in solchen Situationen sicher zu versorgen. Mit einer einfachen Anpassung der Regelungen zum Stromexport an die physikalischen Realitäten – „Es darf nur Strom exportiert werden, der auch transportiert werden kann“ – würde sich der im Stresstest genannte angeblich immense Kraftwerksbedarf im Süden sofort in Luft auflösen. Eine solche Anpassung ist etwa nach EU-Elektrizitätsbinnenmarktverordnung §16 möglich.

 

7. Europäische Solidarität

Den Stromexport aus Deutschland begrenzen in erster Linie die Leitungskapazitäten und nicht fehlende Kraftwerke. Siehe dazu auch die Infografik „Stromversorgung gesichert – ohne AKW“.
 

8. AtomkraftwerkeDer Stresstest überschätzt die AKW. Statt den im Stresstest angenommenen 2,9 GW würden sie gemäß dem Eckpunktepapier des Wirtschaftsministeriums tatsächlich nur 0,7–1,8 GW liefern können – und auch das erst nach wochenlangen Umbauarbeiten und gefährlicher Stückelei mit gebrauchten Brennelementen. Dementsprechend geringer wäre auch ihr möglicher Beitrag zum Redispatch. Mehr Infos dazu im Blog.

Trotz der die AKW überschätzenden Annahmen zeigt der Stresstest aber, dass die AKW überflüssig sind. Er hat am Beispiel des Extremszenarios (++) untersucht, was ein Streckbetrieb aller drei AKW (Weiterbetrieb Januar–März mit ca. 80%–60% Leistung) bringen würde; Sicherheitsfragen blieben dabei außen vor. In der simulierten „Dunkelflaute“ sinkt die theoretische Lastunterdeckung in Deutschland so von 1–2 Stunden (max. 700 MW) um eine (!) Stunde auf 0–1 Stunden (max. 200 MW). Europaweit bleibt es bei 18 Stunden und maximal 6.200 MW (statt 6.000–7.000 MW). Da aber, wie oben beschrieben, in einem solchen Fall schon die kurzzeitig sehr hohen Strompreise die Lastspitze kappen dürften und dieses Ziel auch sonst mit einfachen Maßnahmen zu erreichen wäre, dürfte der Nutzen der AKW hier gleich null sein.



https://www.ausgestrahlt.de/themen/energiewende-retten-atomkraftwerk